Syrien war einst ein für arabische Verhältnisse fortschrittliches und aufstrebendes Land. Für die EU war es ein möglicher Partner, mit dem unter anderem 2004 ein Assoziationsabkommen für die geplante «Europa-Mittelmeer-Partnerschaft» besprochen und 2006 vereinbart wurde. Doch dann ergriffen die westlichen Regimewechsler und ihre regionalen Partner die Chance des «Arabischen Frühling» und starteten 2011 einen Bürgerkrieg in Syrien.
Das Land unter Präsident Bashar al Assad hielt lange stand, auch mit Unterstützung aus Russland und dem Iran. Doch im Dezember war das ausgelaugte und von innen und außen zerstörte und zerrissene Syrien nicht mehr widerstandsfähig. Eine von externen Kräften aktiv unterstützte Allianz von Islamisten und Führung der Terrormiliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) marschierte in Damaskus ein und stürzte Assad, der nach Russland floh.
Wie es dazu kam und wie es heute in dem Land im Mittleren Osten aussieht, darüber berichtete die Nahost-Korrespondentin Karin Leukefeld am Mittwoch in Berlin. Im Marx-Engels-Zentrum sprach sie über ihre Eindrücke, zeigte Fotos und analysierte die Entwicklung mit ihren verschiedenen Faktoren.
Leukefeld ist seit 2000 als freie Korrespondentin in der Region zwischen dem östlichen Mittelmeer und der Persischen Golfregion unterwegs und berichtet als eine der wenigen westlichen Journalisten von vor Ort. Sie hat dabei mehrmals auch Syrien besucht und in zahlreichen Beiträgen über die Geschehnisse dort geschrieben und gesprochen.
Karin Leukefeld im MEZ Berlin (Foto: Tilo Gräser)
Was sie von ihrem letzten Aufenthalt dort erzählte und auf Fotos zeigte, war erschreckend und auch tragisch. Es hat deutlich gemacht, was herauskommt, wenn der Westen anderen Ländern seine vermeintlichen Werte wie Demokratie und Menschenrechte predigt: Gewalt, Zerstörung, Krieg und Hunger.
Die Journalistin sprach nicht nur über die Lage im Land, seitdem die islamistische HTS dort an der Macht ist. Sie ging ebenso auf die Situation der gesamten Region des Mittleren Ostens ein, den vor allem Israel, das vom Westen auch im Vernichtungsfeldzug gegen die Palästinenser unterstützt wird, derzeit umgestalten will. Die Gesamtlage sei ebenso wichtig wie die Vorgeschichte, betonte sie.
Ohne Palästina
Dabei erinnerte sie unter anderem an die Rede des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu im September 2023 vor der UNO-Vollversammlung. Dort zeigte Netanjahu eine Karte des «Neuen Mittleren Ostens», auf der es kein Palästina mehr gab.
Auf einer anderen Karte bezeichnete er die Zusammenarbeit mit Saudi-Arabien und anderen arabischen Golfstaaten als «Segen». Sie würden dann Indien mit Europa verbinden können, in einem grünen Transportkorridor, über den Waren, Daten und Rohstoffe hin und her geliefert werden könnten.
Dagegen habe er Länder wie Iran, Irak, Syrien und Jemen als «Fluch» bezeichnet, wenn diese die Macht in der Region übernehmen würden. Das habe Netanjahu vor der UNO-Vollversammlung erklärt, zwei Wochen vor dem «Ausbruch aus dem Gaza-Gefängnis», wie viele Araber den palästinensischen Angriff am 7. Oktober 2023 auf Israel sehen. Auch der darauffolgende israelische Vernichtungs- und Zerstörungsfeldzug gegen die Palästinenser mit großen Opferzahlen gehört zur Vorgeschichte des Umbruchs in Syrien, so Leukefeld.
Die Ausweitung des Krieges Israels an sieben Fronten gehöre ebenso dazu. Die Journalistin zeigte Fotos von libanesischen Orten im Grenzgebiet zu Israel, die durch die israelische Armee dem Erdboden gleichgemacht wurden. Auch im Libanon habe es massive Zerstörungen gegeben, weil Israel gegen die Hisbollah die Grenze überschritt.
Als eine vereinbarte Waffenruhe im Libanon Ende November 2024 begann, seien in Syrien islamistische Gruppen unter dem Kommando der HTS aus ihrer Hochburg in der Region Idlib erst auf Aleppo und dann auf Damaskus marschiert, wo sie dann am 10. Dezember 2024 die Macht übernahmen. Sie habe sich zu dem Zeitpunkt im Libanon aufgehalten und sei dann nach Syrien gefahren, berichtete die Journalistin.
Sie schilderte ihre Beobachtungen aus einem Land, in dem jegliche staatliche Autorität zusammengebrochen war und der Schwarzmarkt mit allen möglichen Waren, vor allem mit Lebensmitteln und Brennstoffen, unkontrolliert anwuchs. In dem die armen Menschen vor allem auf dem Land auf Spenden von Brot durch die «Guten Menschen aus Damaskus», eine Bewegung von Geschäftsleuten, angewiesen sind, während unkontrolliert Luxusautos eingeführt werden für die Reichen, die es auch gibt.
Mit der Scharia
Leukefeld beschrieb ebenso die Rolle des neuen Machthabers Ahmed al-Scharaa alias Abu Mohammad al-Jolani, der vom international gesuchten Terroristen zum vom Westen anerkannten Gesprächspartner mutierte. Sie berichtete, das oppositionelle Gruppen in Syrien von der neuen Führung eine zivile Verfassung für das Land fordern, was aber von den Islamisten abgelehnt werde, die das islamische Recht, die Scharia, durchsetzen wollen.
Die Nahost-Korrespondentin zeigte Fotos von den Vororten von Damaskus, die durch den jahrelangen Krieg zerstört wurden, von zerstörten Kirchen, die nicht wieder aufgebaut wurden. Sie berichtete von Menschen, die versuchen, ihr Überleben zu sichern, weil das Leben nach dem Sturz von Assad nicht leichter geworden sei. Einer ihrer Gesprächspartner habe gewarnt, wenn die Lage so bleibe, gebe es eine nächste große Fluchtwelle aus Syrien – aufgrund der zunehmenden Hungersnot.
Die Islamisten in Syrien seien während des Bürgerkrieges vom Westen unterstützt worden. Dagegen seien jene Kräfte, die sich für einen zivilen politischen Wandel in dem Land eingesetzt hätten, ignoriert worden. Zu den Folgen gehöre, dass es heute keinerlei ernstzunehmenden organisierten politischen Kräfte gebe, die den Islamisten Paroli bieten könnten.
In einem Bericht im britischen Magazin The Economist sei der neue syrische Machthaber als «großer Heuchler» und «Chamäleon» beschrieben worden. Doch ohne Unterstützung der «Königsmacher» wäre sein Aufstieg vom brutalen Terroristen, der alle Angriffe auch westlicher Kräfte auf die Islamisten überlebte, zum nunmehrigen syrischen Übergangspräsidenten nicht möglich gewesen, betonte Leukefeld.
Sie nannte dabei die USA und Großbritannien ebenso wie die Türkei und Israel, die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien und Katar. Diese Staaten haben ein Interesse an Syrien und an der Kontrolle über das Land und «waren auch schon in den Beginn des Krieges 2011 involviert». Der türkische Geheimdienst sei unter anderem der «Pate» des Al Qaida-Ablegers und HTS-Vorläufers Al-Nusra-Front.
Ohne die Syrer
«Eine wesentliche Rolle in der ganzen Region» habe insbesondere Großbritannien gespielt, erklärte die Journalistin, insbesondere was die Nachrichten- und Geheimdienste angehe. Und während seit der Machtübernahme der Islamisten zwar zahlreiche westliche Politiker mit diesen sprachen, spiele Syrien bei einer ganzen Reihe von internationalen Konferenzen über die weitere Entwicklung in dem Land selbst keine Rolle.
«Die Syrer in Europa oder in Deutschland haben sich gefreut über den Sturz von Assad. Aber niemand hat mit ihnen darüber geredet, was sie jetzt eigentlich für ein Land haben wollen. Darüber haben andere, wie auch Frau Baerbock, verhandelt und Geld angeboten.»
«Syrien wird verteilt» hatte Leukefeld über ein Foto geschrieben, das die Teilnehmer an der internationalen Konferenz über Syrien am 12. Januar 2025 in der saudischen Hauptstadt Riad zeigte. In der ersten Reihe die bundesdeutsche Außenministerin Annalena Baerbock, während UN-Vertreter Geir Pedersen, seit 2018 Syrien-Beauftragter der UNO, nur in der zweiten Reihe stand. Dabei sollte nach der UN-Sicherheitsratsresolution 2254 die UNO den politischen Übergangsprozess in Syrien führen, so Leukefeld.
«Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Hayat Tahrir al-Sham ist einmarschiert, sitzt im Präsidentenpalast, hat alle Ministerien übernommen und der Außenminister ist sogar auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos gewesen.»
HTS-Außenminister Asaad Al Shibani habe in Davos erklärt, Syrien sei offen für Geschäfte. Die neue Führung in Damaskus bemühe sich intensiv, dass die westlichen Staaten die anhaltenden Sanktionen aufheben. Die Journalistin verwies in ihrem Vortrag auf die zerstörerische Wirkung der Sanktionen gegen Syrien und zitierte dazu den ehemaligen EU-Außenbeauftragten Joseph Borell, der 2023 erklärt hatte:
«Sanktionen sind ein langsam wirkendes Gift, wie Arsen. Es dauert, bis sie ihre Wirkung entfalten, aber sie wirken in unumkehrbarer Weise.»
Die bundesdeutsche Regierung habe sich bis Dezember 2024 immer dagegen ausgesprochen, die Sanktionen zu lockern, erinnerte Leukefeld. Die Armut der syrischen Bevölkerung infolgedessen habe für die westlichen Regierungen und Medien nie eine Rolle gespielt, obwohl auch für die Menschen in Syrien die Menschenrechte wie für alle anderen gelten würden – «auf Entwicklung, auf Sicherheit, auf genügend Essen, auf Gesundheitsversorgung. Das sind die gleichen Rechte, die allen zustehen.»
Mit Israel
In Deutschland gebe es Interesse an Syrien auch aus innenpolitischen Gründen, um die Zahl der Flüchtlinge aus dem Land wieder reduzieren zu können, erklärte die Nahost-Korrespondentin. Aber es gebe auch geopolitische Motive, sagte sie und wies auf eine Presseerklärung des Auswärtigen Amtes vom 13. Januar dieses Jahres hin, in er es hieß, Deutschland sei «strategischer Partner Israels, an Bedeutung nur von den Vereinigten Staaten übertroffen». Und:
«Beide Länder sind vereint in ihrem Engagement für gemeinsame Werte und ihrer Entschlossenheit, gemeinsam den Herausforderungen der Gegenwart zu begegnen.»
«Was heißt das angesichts des Krieges, den Israel nicht nur gegen die Palästinenser, sondern auch gegen andere arabische Nachbarstaaten führt», fragte Leukefeld. Es gehe um Geopolitik, in der die Menschen in der arabischen Welt gefangen seien. Und:
«Da sind wir wieder bei Netanyahu, der gesagt hat, wir wollen einen neuen Mittleren Osten schaffen.»
An dem Tag, als die HTS-Miliz in Damaskus einmarschierte, habe die israelische Armee Syrien überfallen und bombardiert. Bis heute halte sie weite Gebiete des Landes besetzt und stehe 40 Kilometer vor Damaskus. Völkerrechtswidrig seien sechs Militärposten Israels in der eigentlich UN-kontrollierten Pufferzone zwischen beiden Ländern errichtet worden.
Netanjahu habe vor seinem Besuch bei US-Präsident Donald Trump Anfang Februar erklärt, die Kriegsführung Israels habe bereits «das Gesicht des Mittleren Ostens verändert». «Unsere Entscheidungen und der Mut unserer Soldaten haben die Landkarte verändert.» Und weiter: «Ich glaube, dass wir sie in enger Zusammenarbeit mit Präsident Trump noch weiter neu zeichnen können, und zwar zum Besseren.»
Die Journalistin sieht die Pläne für einen «Neuen Mittleren Osten» nach dem Willen Israels und der USA als Reaktion auf das Aufkommen der BRICS und das zunehmende Interesse zahlreicher Staaten daran, unter anderem aus der arabischen Welt. Diese Entwicklung habe «Schockwellen» in Brüssel und Washington ausgelöst.
«Der Neue Mittlere Osten, wie Netanyahu ihn formuliert hat, ist das Gegenmodell zur multipolaren Weltordnung, zur Entwicklung und Ausweitung von BRICS und zur Unabhängigkeit der Staaten Westasiens.»
Auch die Europäische Union (EU) versuche, Einfluss in der Region zu gewinnen, unter anderem über die «Europäische Nachbarschaftspolitik», welche die betreffenden Länder des Mittleren Ostens einschließe. Leukefeld verwies auf weitere Aktivitäten, so das Projekt India-Middle East-Europe Economic Corridor (IMEC), gestartet im September auf dem G20-Gipfel in neu Delhi von den Regierungen Indiens, der USA, der VAE, Saudi-Arabiens, Frankreichs, Deutschlands und Italiens sowie von der EU – als Gegenstück zum chinesischen Projekt der Neuen Seidenstraße.
Ohne Frieden?
Syrien spiele dabei als «Brückenland» eine wichtige Rolle, erklärte Leukefeld. Sie wies zugleich daraufhin, dass dem Land drohe, in Einflusszonen Israels, der Türkei und der USA zerrissen zu werden. Dabei handele es sich eigentlich um ein Land, das in der ganzen Region wichtige Kontakte habe.
Die Stämme in der syrischen und irakischen Wüste hätten Verbindungen vom Norden bis runter in die Golfstaaten, in die Türkei, in den Iran und nach Ägypten. Syrien sei «sehr vielfältig und bekannt durch eine relativ große Toleranz in vielen Zeiten, vor allem gegenüber den unterschiedlichen ethnischen Gruppen und Religionen«.
«Und wenn das jetzt alles auseinanderbricht, dann haben wir da vor allen Dingen Krieg. Wir haben weiter Krieg zwischen den unterschiedlich regionalen und internationalen Akteuren. Ich glaube, darauf läuft es hinaus.»
Die Journalistin forderte dazu auf, die westlichen Interessen an dem Geschehen offenzulegen. Zugleich müsse mit den Menschen in den Ländern kooperiert werden, die dort zu Haus sind: «Das sind die rechtmäßigen Besitzer dieser Länder, ob das jetzt Libanon ist oder Irak oder Syrien, ob das Iran ist und auch eben die Länder, die zu BRICS gehören.»
Buchtipp:
Karin Leukefeld: «Krieg in Nahost – Geopolitik, Verwüstung, Widerstand und Aufbruch einer Region»
Hintergrund Verlag 2024. 120 Seiten; ISBN 978-3-910568-15-0; 14,80 Euro
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